• «Nur wenn die Längsachse trägt, ist die Querachse frei und beweglich.»

Aufrichtung als Ausdruck physischer, rationaler und emotionaler Identität!

Im 1. Teil habe ich versucht, eine differenzierte Betrachtungsweise einer aufrechten Haltung zu beschreiben. In dem Sinne ist „Haltung“ ein Fehlbegriff, weil er eine verstärkte Aktivierung der Muskulatur auslöst. Genau das beobachte ich immer wieder bei falscher Körperorganisation – einer sogenannten Dysfunktion. Verstärkt zudem die oft gehörte Redewendung: „Halte dich gerade!“ unsere Anstrengung, dann wird die Kompensationsspannung in der Muskulatur weiter gesteigert. Denn unsere Wirbelsäule, welche in einer funktionellen S-Form aufgebaut ist, zu begradigen, fühlt sich so an, wie wenn ein Auto ohne Stossdämpfer über eine Landstrasse mit Schlaglöcher fährt. Zum Glück ist es nicht ganz so drastisch, da die Bandscheiben und Gelenkknorpel auch noch einiges absorbieren können. Bis diese aufgrund dieser chronischen Überlastung mit Knorpelschäden, Diskushernien verbunden mit arthrotischen Konsequenzen kapitulieren.

Gemäss Moshé Feldenkrais – hochdotierter Physiker mit einer Affinität zur menschlichen Biomechanik – sind diese Beschwerden auf ein Fehlverhalten und nicht auf genetische Erbanlagen zurückzuführen. Mit „Funktion determines the Structure!“ erklärt Moshé unmissverständlich, dass die Funktion die Struktur bestimmt und diese nicht gegeben ist. So degeneriert die Muskulatur eines Astronauten ohne Einfluss der Schwerkraft in kurzer Zeit völlig und die Knochenstrukturen beginnen sich aufzulösen, wenn dieser Zustand zu lange anhält. Der Dreispringer baut über Jahre eine doppelt so dicke Achillessehne auf, damit die Sprünge ohne Überlastung aufgefangen werden können.

Multifaktorielle Einflüsse auf unsere Haltung

Wenn wir die Hauptorgane für eine natürliche Aufrichtung aufzählen, bilden das Skelett das statische Fundament, das Nervensystem die Steuerungszentrale und die Muskulatur das ausführende Organ. Im Teamwork eine funktionelle Einheit. Diese entwickelt sich gemäss dem Anforderungsprofil des alltäglichen Lebens.

Die rationale Denkfähigkeit befindet sich im Stirnlappen (präfrontaler Cortex). Zusammen mit der emotionalen (limbisches Hirn) Kompetenz beeinflussen beide unsere Aufrichtung. Wenn wir über eine klare Bewegungsvorstellung im Sinne einer logischen Bewegungsökonomie verfügen, wird diese rationale Kompetenz zu einer besseren Bewegungsorganisation führen.

Das limbische Hirn gehört zu den ältesten Hirnstrukturen und ist in Stresssituationen sehr aktiv als auch dominant und führt zu erhöhter Ausschüttung der Stresshormone. Ein über lange Zeit erhöhter Cortisolwert führt zur Erschöpfung anderer wichtiger chemischer Botenstoffe wie Dopamin und dem ebenfalls anregenden Noradrenalin und dem eher dämpfenden Serotonin. Sie sind die treibende Kraft im Organismus für Bewegungen, Koordination, Konzentration, Motivation und geistiger Leistungsfähigkeit.

Dies führt zu oft irrationalen Handlungen. Zudem werden bestimmte Emotionen in adäquaten Körperstrukuren widerspiegelt. Das Weinzentrum befindet sich im oberen Brustkorb inkl. Kehlkopf (Schluchzen), das Lachzentrum im Unterbauch. Tiefe Trauer ist beinahe im ganzen Körper sichtbar. Erhöhte Stressfaktoren zeigen sich in einem harten starren Blick, verkrampften Fingern und oft unbewusst in zusammengebissenen Zähnen – die Kiefermuskeln inklusive Zunge sind unter Dauerspannung (Zähneknirschen in der Nacht). Auch der Unterbauch wird angespannt, was eine freie Atmung verunmöglicht.

Damit sind wir bei der wichtigsten Konsequenz: Unsere eingeschränke Atmung für zu gesamtorganischen Defiziten in Form einer ungenügenden Zellatmung. Die Qualität unserer Atmung ist also der differenzierteste Indikator einer eingeschränkten Funktion bezüglich physischer, rationaler und emotionaler Überforderung.

Die Qualität der Atmung als differenzierter Parameter unseres Seins

Aufgrund dieser Komplexität muss das Thema Aufrichtung von möglichst allen Seiten angegangen werden. Nur authentische Menschen mit emotionaler Kompetenz, einem ökonomisch organisierten Nervensystem im Bereich der Motorik, ausgebildet mit einem gut entwickeltem Wahrnehmungsvermögen (Sensorik) bewegen sich leicht und aufrecht in ihrem Alltag. Sie lernen schnell, sind neugierig und tolerant gegenüber anders Denkenden und Handelnden. So gesehen sind aufrecht und aufrichtig zwei sehr verwandte Begriffe.

Nun freue ich mich, euch auf einer kleinen Reise durch den Körper zu begleiten und die verschiedenen Puzzlesteine, welche eine natürliche Aufrichtung fördern, mit verbalen Bewegungsaufgaben zu sensibilieren – viel Spass in der folgenden dreiviertel Stunde.

Ihr braucht einen Hocker mit flacher Sitzfläche und je nach Körpergrösse eine Erhöhung (dickes Buch, harter Schaumstoff), damit das Becken ca. 5 cm höher sitzt als sich das Knie befindet. Genaueres zur Sitzhöhe findet ihr im letzten Blog. Ich wünsche euch viele interessante Entdeckungen auf der Reise durch euren Körper!

Es ist kein professionelles Video ohne Versprecher und perfektem Licht und Aufnahmetechnik:-) Die Aufnahme ist bewusst 9:16 aufgenommen, damit das Video auf dem Handy optimal dargestellt wird. Den Link zu meinem Video findet ihr hier.

Roland Bärtsch