• «Hältst du dich noch oder bist du aufrecht?!»

Aufrecht ist ein Sein und nicht ein Halten.

Halte dich gerade!

Wenn wir auf unsere „Haltung“ angesprochen werden, versuchen wir uns gerade zu halten. Daher ist für viele Menschen Aufrichtung oft mit zusätzlicher Anstrengung verbunden. Ja sogar Bedingung: „Ich muss mich doch anstrengen, wenn ich etwas erreichen möchte!“ Dieses Weltbild begleitet unser Tun meist von Kindesbeinen an. Auch ich bin so aufgewachsen. Die verkörperte Identifikation einer „geraden Haltung“ wird mit Willenskraft und Anstrengung assoziiert.

Die deutsche Sprache ist meiner Ansicht nach die farbigste und differenzierteste bezüglich Klarheit und sinnbildlichen Begriffen. Sie trifft den „Nagel wirklich auf den Kopf.“ Und beschreibt damit die Lebensweise und Werte unserer Kultur auf eindrückliche Art und Weise.

Es haben sich daher auch einige Wortschöpfungen durchgesetzt, über welche ich nicht gerade glücklich bin: Das Wort „Haltung“ ist für mich ein absoluter Missgriff; widerspiegelt aber unsere Grundwerte sehr treffend. Denn „aufrecht“ durch das Leben zu gehen, hat wenig mit „Haltung“ zu tun, sondern mehr mit einem „Sein“. Die individuelle „Haltung“ kommuniziert 90% nonverbal, wie „es mir geht“. Und drückt klarer als Worte aus, was ich eigentlich sagen möchte und wer ich bin. Um einen treffenden englischen Ausdruck zu zitieren: „A Body never lies;“ – ein Körper lügt nie!

Bezüglich dieser disfunktionalen Entwicklung der Körperhaltung gibt es mehrere menschliche Errungenschaften, welche negative Einflüsse auf eine natürliche Aufrichtung der Wirbelsäule haben.

Der Stuhl

1. Der Stuhl – Sitzen auf einem Stuhl als Hauptursache unzähliger menschlicher Leiden! Die Standardhöhe von 45 cm ist ok für eine Körpergrösse von 160 cm, da aber Kinder lange kleiner als 160 cm und viele Erwachsene deutlich grösser sind, leiden viele oft von Kindesbeinen an; spätestens beim Schuleintritt! Alle Kinder sollten zwischen mehreren Arbeitsplätzen frei wählen können: Arbeiten am Boden, auf verschiedenen Sitzmöglichkeiten wie Sitzkissen, Physiobällen und verstellbare Sitz- und Stehpulte wären ein unbezahlbarer Beitrag an eine ausbalancierte skelettale und muskuläre Entwicklung. Diese vermeintliche Unruhe im Klassenzimmer würde manches ADHS nie entstehen lassen! Weil standardisiertes Sitzen für ein Kind eine Form von Vergewaltigung des kindlichen Seins bedeuten kann. Für mich war es jedenfalls eine traumatische Erfahrung. Manche Menschen sitzen bis zu 18 Stunden pro Tag , weil sie auch noch in der Embryoposition schlafen.

Die optimale Sitzhöhe für das Becken auf einem flachen Hocker sollte etwa 3 cm über Knielevel (gemessen am oberen Ende der Kniescheibe) gewählt werden und die Sprunggelenke sich dabei im Lot unter den Knien befinden.

Für grosse Menschen bedeutet dies eine Sitzhöhe deutlich über 55 cm. Nur so kann das Becken frei über den Hüftgelenken nach vorne und hinten gerollt werden, ohne dass eine Einengung in der Leistengegend stattfindet. Und damit die Hüftgelenke auch seitlich Spielraum haben, sollten die Sitzbeinhöcker weit vorne auf dem Hocker platziert werden. Optimal ist ein verstellbarer Bürostuhl mit ebener Sitzfläche, welcher mit der besagten Einstellung eine aktive Sitzhaltung ermöglicht, aber bei Ermüdung mit einer 5-10cm tieferen Sitzfläche an der Rückenlehne eine gestützte Wirbelsäule Erholung findet. Dabei ist es wichtig, dass die Sitztiefe ein vollständiges Anlehnen zulässt, ohne dass die Vorderkante in die Kniekehle drückt. Eine ergonomische Lehne bewirkt eine völlige Entspannung der Bauchmuskulatur, was eine befreite Tiefenatmung fördert.

Damit kommen wir zum nächsten modernen Möbel, welches in standardisiertem Mass eine unheilige Allianz mit dem Stuhl bildet.

Der Tisch

2. Der Tisch – v.a. in Kombination mit dem Stuhl verlockt uns noch länger zu sitzen. Dabei möchte ich den gesellschaftlichen Wert eines gemeinsamen Essens in keiner Weise verteufeln, aber kollabiert am Tisch sitzend verhockt der Körper noch mehr und die Atmung wird durch unaufgerichtetes Sitzen stark eingeschränkt. Alle muskulären Beuger können damit gar nicht anders, als sich zu verkürzen. Auch sportliche Menschen sitzen mindestens  6 Stunden im Tag an einem Tisch. Oft unbewusst, passiv, mit verspannten Schultern und fixiertem Blick auf den Bildschirm… gehalten in Körperregionen, welche eigentlich für Bewegung gedacht wären und gleichzeitig mit – ja das Wort passt perfekt – miserablem Gebrauch unserer Wirbelsäule und fixiertem Becken. Ein Stehpult kann dabei eine effektive Abwechslung bieten, sofern aufrecht und variabel gestanden wird. Denn Stehen ist für viele Personen noch schwieriger al aufrecht Sitzen! Auch dafür kann ein Stehtraining oft hilfreich sein.

Der Schuh

3. Der klassische Schuh – meist mit unflexibler Sohle, zuviel Dämpfung und zu wenig Platz im Vorfuss – verhindert ein eine komplexe Anpassung an den Untergrund, zumal dieser im Alltag sowieso hart und langweilig monoton flach ist. Bestehend aus Asphalt oder Parkett. Eigenlich hätten wir 28 Knochen (!) zur Verfügung, welche wie sich wie eine Katze dem Gelände anpassen könnten. Aber nur, wenn wie die ebenso hohe Anzahl Muskeln differenziert einsetzen. Regelmässiges Barfusslaufen ist für viele degenerierte Füsse anfänglich oft mit Schmerzen verbunden; wer aber dosiert mit einem gezielten Training beginnt, den Untergrund den eigenen Möglichkeiten anpasst, wird nach 20 Trainingseinheiten deutliche Fortschritte bezüglich Gleichgewicht, Kraftfähigkeiten und Aufrichtung im ganzen Körper verspüren – nur „wer Boden unter den Füssen hat, kann fliegen!“

Was das bedeutet

Wenn wir diese 3 degenerativen Gewohnheiten aktiv gestalten, mit sinnvollen Bewegungsblöcken – möglichst in freier Natur – bewusst unterbrechen, können wir einen wertvollen Beitrag zu unserer Gesundheit leisten. Es ist effektiver, die 3 potentiell schädlichen Gewohnheiten qualitativ so zu verändern, dass gar keine übermässige Degeneration eintritt. Das nennt sich effektive Prävention! Es ist sicherlich sinnvoll, wenn noch 3 Stunden Sport pro Woche hinzu kommen. Gestalten wir unsere 30 Stunden Sitzen pro Woche aktiv, abwechslungsreich und 2x täglich unterbrochen durch gezielte kurze 5-10 minütige Sitztrainings, ergänzt durch genussvolle Wanderungen über Singletrails durch unsere schöne Natur, dann „steht“ einem aufrechten Gang nichts mehr im Weg und der „Schmerz sitzt nicht mehr im Nacken.“

Ich werde im nächsten Blog, welcher in Kürze folgt, noch mehr in die Praxis der Aufrichtung und des aufrechten Seins eintauchen und freue mich auf eure aktive Teilnahme.

Roland Bärtsch