Lebendiges Gehen – barfuss auf einem Rasen
„Wie geht es dir?“
Diese dreidimensionale Frage zum Befinden wird in der deutschen Sprache sehr treffend formuliert. Denn Gehen als Ausdruck des Seins spricht mehr als tausend Worte. Die wachsame Beobachtung von gehenden Menschen gehört zu meinen liebsten und nie langweilig werdenden Beschäftigungen. Auf dem Heimweg durch die Lauben der Berner Altstadt fällt mir auf, wie viele Menschen gedankenverloren einige Meter vor sich auf den Boden starren. Kaum jemand geht aufrecht mit Blick am Horizont. Vertrauen diese Menschen ihren Füssen nicht oder sind die Gedanken durch künftige Ereignisse gefangen? Beschäftigt sie etwas Vergangenes, welches verarbeitet werden muss? Oder ist alles zu viel: Zu viele Menschen, zu viele Eindrücke, zu viele Sorgen, zu viel …!?!
Zugegeben: Gehen auf Asphalt ist hart für die Gelenke und langweilig für unser Nervensystem. Daher möchte ich alle einladen zu einem bewussten Gehen – barfuss auf Rasen; jetzt ist die Zeit dafür. Wann sind Sie das letzte Mal baren Fusses auf einem Rasen gegangen – im Marzili? Falls Sie also beim nach Hause Gehen an einem Rasenfeld vorbeikommen, wie wir es oft bei den Schulanlagen vorfinden, zögern Sie nicht, die Schuhe auszuziehen.
Was für eine Sensation! Unsere Füsse an der frischen Luft, befreit von den Schuhen, im direkten Kontakt mit dem lebendigen Boden… und schon ist die Müdigkeit vergessen und ein Lächeln huscht über die Lippen. Wie ein erfrischendes Bad in der Aare.
Bevor wir aber in eine achtsame Gehmeditation einsteigen, welche ich in meinem letzten Blog beschrieben habe, schreiten Sie doch mal genussvoll über den Rasen. Schreiten und der Schrei nach Freiheit sind nicht weit voneinander entfernt. Fühlen Sie sich lebendig, vielleicht verbunden mit Erinnerungen an eine unbeschwerte Zeit? Ja – geniessen Sie jeden Schritt, denn Genuss ist Ausdruck eines gegenwärtigen Seins. Lassen Sie das Vergangene ruhen und denken Sie nicht an alles, was noch kommen mag. Spüren Sie die Temperatur des Untergrundes, die sanften Unebenheiten und das erfrischende Kitzeln des Rasens zwischen den Zehen. Vielleicht sticht sie der Hafer und Sie beginnen gar einige Schritte zu joggen? Schämen Sie sich nicht! Denn sind die Füsse einmal aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, verlangen Sie nach mehr!
Achtsames Gehen als Ausdruck von Raum, Zeit und Kraft
In Anlehnung an den letzten Blog: Wenn eine innere Unruhe aufkommt, sich Ängste im Körper ausbreiten; dann ist unser Körper auf Aktivität als Ausdruck einer „Verteidigungsstrategie“ eingestellt. Dies zeigt sich oft in einer Hyperaktivität und wir strengen uns noch mehr an, um diese gestaute Energie in Bewegung zu transformieren – ein klassisches Verhalten einer Katharsis: „Das Sich Befreien von psychischen Konflikten und inneren Spannungen durch emotionales Abreagieren.“ Dies kann durchaus mal sinnvoll sein, leider ist es allzu oft das Mittel der Wahl und führt über kurz oder lang zu einer Erschöpfung.
Wenn wir uns Bewegen und nicht Sport treiben – erkennen Sie den Unterschied? -, in diesem Moment rennen wir nicht davon, sondern halten inne. Spüren Sie jetzt, wie ihr Gewicht durch die Füsse in den Boden sinkt und Sie sich getragen fühlen? Schauen Sie sich doch nochmals die Bilder der Gehmeditation an; es sind dieselben wie beim letzten Blog, aber von anderen Worten begleitet. Sobald Sie das Gewicht auf ein Bein verlagern, kann sich – bei optimaler Organisation – dieselbe Seite vollständig aufrichten.
Wir fühlen uns getragen in der „Olé-Position“. Olé bedeutet: Ich stehe zentral in ein Bein, alle beteiligten Gelenke werden durch die Muskulatur in der Vertikalen ausgerichtet und ich selbst – mein ganzes Wesen – richtet sich auf! Ich stehe zu mir und ruhe dynamisch balanciert und habe nun die Entscheidungsfreiheit: Möchte ich einen weiteren Schritt nach vorne gehen oder lieber rückwärts, vielleicht gar seitwärts? Nach Moshé Feldenkrais ist jede reife Bewegung umkehrbar, sofern zumindest ein Körperteil im Boden ruht.
Ich bringe also entspannt das Spielbein nach vorne – ohne Hektik! Dann setze ich eine halbe Fusslänge vor dem Standbein die Ferse auf und rolle ruhig den Fuss ab, bis das Gewicht auf beide Beine verteilt ist. „Geht es“ auch ohne Augenkontrolle, denn unsere Körpersensoren sind dafür eigentlich viel präziser!?
Mutig bringe ich das Körpergewicht vollständig auf das vordere Bein, welches sich mit zunehmendem Gewicht streckt, weil der hintere Fuss entschlossen noch vorne oben stösst und sich so die Ferse vom Boden löst.
Die drei Dimensionen Raum, Zeit, Kraft lassen sich in andere Worte fassen: Kraft entsteht durch „sich auf den Boden einlassen“. Den Boden als Ausgangs- und Kraftort von Stabilität und Sicherheit „ergründen“. Zeit wird einem mit jedem Atemzug bewusst gemacht; jeder Atemzug ist Ausdruck von „Jetzt“. Bewusstes Atmen bringt uns voll in die Gegenwart. Raum definiert sich als dreidimensionale Wahrnehmung nach innen und aussen:
Wo Boden ist, da ist auch Himmel. „Nur wer Boden hat, kann fliegen!“ Warum immer nur nach vorne schauen, denn hinten ist genau so unendlich! Das Hinten gibt unserem Innenraum das Volumengefühl. Schliessen Sie dazu die Augen, sobald Sie zentriert in beide Füsse stehen. Orientieren Sie die Augen rückwärts gerichtet und schauen Sie bis ans Ende ihres Hinterhauptes und noch viel weiter. Nehmen Sie sich genügend Zeit dafür. Atmen Sie! Hören Sie wachsam hin, welche Geräusche links und rechts an Sie herangetragen werden. Diese Ebene öffnet den Horizont in die Weite. Atmung, Grounding und Raum – diese drei Dimensionen des Seins machen die Gehmeditation zu einem Erlebnis. Sie verschmelzen zu einem simplen „Jetzt“!
Bleiben Sie geduldig und nachsichtig mit sich selbst. Eine entspannte Balance kann nur mit einem Lächeln beantwortet werden und ist nicht von Ungeduld begleitet. Üben Sie nicht, sondern zelebrieren Sie Gehen als bewusstes Ritual des Mensch Seins. Jeden zweiten Tag für 15 Minuten. Nach drei Monaten möchten Sie dieses Ritual nicht mehr missen!
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen genussreiche „Olé“-Momente.
Roland Bärtsch